Am Dienstag geht es beim Neuen Morgen auf baden.fm um ein Thema, das besonders viele Menschen in Südbaden kennen:
Als vergangenen Freitagabend eine Stellwerkstörung bei Basel den Fern-Schienenverkehr im Dreiländereck für mehrere Stunden fast vollständig zum Erliegen gebracht hat,
war Claudia* bereits seit guten 45 Minuten auf dem Nachhauseweg. "Das schlimmste an solchen Situationen ist, dass man in der Regel überhaupt keine Informationen erhält, wann es weiter geht. Egal ob Deutsche Bahn oder SBB, wenn bei denen irgendetwas nicht klappt, dann ist der komplette Feierabend für mich gelaufen", ärgert sich die junge Beamtin mit dem schweren, vollgepackten Rucksack, die aus Angst vor der Reaktion ihres Arbeitgebers ihren richtigen Namen nicht in der Öffentlichkeit lesen möchte.
Jeden Tag, so verrät sie uns am Bahnhof, fährt sie mit ICE und Regionalbahn rund anderthalb Stunden von ihrem Zuhause in Emmendingen zu ihrem Arbeitsplatz in einer Behörde in Bad Säckingen - das ganze pro Strecke und nur, wenn in Basel der Anschluss klappt. Meist sieben Minuten zum Umsteigen, von denen es abhängt, ob sie am späten Abend überhaupt noch Zeit hat, um ihre Sachen für den nächsten Tag zu richten, oder direkt ins Bett fällt - um wenigstens sechs Stunden Schlaf zu erhaschen, bevor sie am nächsten Morgen wieder los muss.
Ausgesucht hat sich Claudia diese Situation zwar selbst, aber nur teilweise, betont sie. Das Land Baden-Württemberg habe ihr damals zwei Stellen angeboten, die andere Option wäre in Konstanz gewesen. Ein Umzug kam nicht in Frage, sie hat eine kranke Mutter in Emmendingen und hier wohnt auch ihr Partner, der sich dort gerade erst einen neuen Job erkämpft hat. "Obwohl ich für beide eigentlich durch das lange Pendeln unter der Woche gar keine Zeit habe", resigniert Claudia.
Ein relativ typischer Fall, glaubt Silke Hamann vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Baden-Württemberg. Die Diplom-Sozialwissenschaftlerin beschäftigt sich seit Jahren mit den Arbeitsbedingungen der Deutschen und hat dafür auch mehrfach die Siutation der Berufspendler analysiert. Bundesweit haben sich rein rerechnerisch die Strecken zwar nicht erhöht, an denen sie am Tag unterwegs sind. Allerdings sind die Betroffenen immer länger unterwegs, was vor allem am höheren Verkehrsaufkommen liegt und daran, dass immer mehr Jobs inzwischen auch in den Regionen frei sind, die nicht so gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen sind. Hamann weiß auch, wer denn üblicherweise so eine Strecke auf sich nimmt. Sie fasst es so zusammen:
Der typische Berufspender ist hochqualifiziert, männlich und im mittleren Alter.
Egal ob mit Bus, Bahn oder dem Auto - weil das Pendeln an sich stark in den Geldbeutel geht, kommt es vor allen Dingen für Arbeitnehmer in Frage, die auch entsprechend verdienen und das sind im regelfall Führungspositionen, aber auch Berufseinsteiger mit langjährigem Hochschulstudium oder vergleichbarem Abschluss. Unter den Hochqualifizierten pendelt in Südbaden inzwischen jeder Zweite weiter als 25 Kilometer zum Arbeitsplatz. Bei jedem Fünfzehnten sind es sogar mehr als 50 Kilometer. Damit steht Baden-Württemberg noch vergleichsweise gut da, in Bayern, dem Saarland oder Rheinland-Pfalz werden solche Strecken weit mehr Menschen täglich abverlangt, stellt das Statistische Landesamt fest.
Auch soziales Umfeld leidet häufig unter der fehlenden Zeit
Für die Betroffenen ist das dennoch ein erheblicher Zeitverlust am Tag, hält Hamann dagegen. Es geht vor allem Zeit verloren, die sonst für Familie, Freunde oder das soziale Umfeld aufwenden würde. Denn meist können die Pendler nur dort noch Zeit einsparen - am Abend für den nächsten Tag Vorkochen oder sich schon einmal die Arbeitskleidung für's frühe Aufstehen zurechtzulegen ist ja weiterhin notwendig. Nicht zu vernachlässigen sei aber auch, so die Expertin, dass die lange Fahrt an sich schon Stress bedeutet. Für viele sind die überfüllten Straßen und Züge ein erheblicher Stressfaktor.
Diesen Stress haben auch die baden.fm-Hörer Dirk und Katharina erlebt. Er fährt täglich von Breisach nach Neuenburg und zurück, jedoch meist mit der Bahn, weil das Auto anders benötigt wird. Das ständige Konzentrieren am Steuer würde ihn außerdem noch mehr Kraft kosten. Für eine Strecke von zwei Mal 37 Kilometern ist er mit Umsteigen und Warten so jeden Tag drei Stunden unterwegs - wenn die Züge keine Verspätung haben. Sie hingegen hat nach sieben Jahren Pendeln zwischen Freiburg und Lörrach irgendwann einen Schlussstrich gezogen, weil es einfach nicht mehr ging:
An der Grenze war oft Stau, dann hat's viel länger gedauert als die Stunde, die ich normalerweise dafür mit dem Auto gebraucht habe. Nach dem zweiten Kind habe ich mich dafür entschieden, das nicht mehr zu machen. Es war mir einfach zu viel. Ich hatte zuerst in Lörrach in der Nähe meines Arbeitsplatzes gewohnt, bin dann aber mit meinem Mann zusammengezogen, der in Waldkirch eine Stelle gefunden hat. Und dann haben wir gesagt: Okay, entweder er pendelt immer von Lörrach nach Waldkirch, oder wir ziehen nach Freiburg und er hat die kürzere Strecke und ich pendle dann eben nicht so weit. Auf dem Weg nach Hause war es dann aber oft so, dass man viel später dran war, während die Kinder schon auf das Abendessen warten mussten oder der ganze Haushalt - da ist einiges liegen geblieben.
2013 hat sich Katharina dann, so berichtet sie uns am Telefon, einen neuen Job gesucht.
Wer nicht nur seltener, beispielsweise auf Montagetermine pendeln muss, sondern dem ganzen täglich ausgesetzt ist, auf den wirkt sich das zunächst einmal ganz klar auf das Wohlbefinden aus, stellt die Freiburger Wirtschaftspsychologin Dr. Nina Pauls fest. Sie erforscht an der Uni Freiburg die Auswirkungen verschiedenster Work-Life-Balance-Konstellationen, beispielsweise auch unter der Fragestellung, welche positiven und negativen Auswirkungen sich durch ständige Erreichbarkeit ergeben. Je länger der Arbeitsweg ist, desto belastender wird er empfunden. Auf der anderen Seite ist gleichzeitig eine gute Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes ein Schutzfaktor für das Befinden. Schwierig wird es jedoch in Situationen, in denen Berufspendler auch in ihrem Job unter Druck stehen. Hohe Arbeitsmengen, das Ticken der Uhr im Hinterkopf, die auf Abgabetermine hinweist oder ein schlechtes Klima unter Kollegen oder in Beziehung zum Chef - das alles trifft Pendler doppelt hart. Wenn das über mehrere Jahre hinweg so läuft und entsprechende Ausgleichsmöglichkeiten wegen Freizeitmangel ausbleiben, entstehen bei vielen echte psychischen Probleme, die sich längerfristig zeigen können - so die Expertin.
Studie: "Pendeln kann zum Beziehungskiller werden"
Verstärkt wird die Situation gerade in Südbaden aktuell von der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt. Weil inzwischen nicht mehr nur in den großen Ballungszentren, sondern auch in den Umlandgebieten die Mietpreise häufig ansteigen, sind viele gezwungen, weitere Anfahrtswege zum Job in Kauf zu nehmen, glauben die Experten. Betroffen sind daher auch immer mehr Familien: Sie sind im Regelfall nicht mehr so flexibel und mobil, wie Berufseinsteiger und haben beispielsweise schon Eigentum in der Region gekauft oder sind vielleicht an einem Standort in Vereinen oder einfach ihrem Freundeskreis fest eingebunden. Doch gerade in einer Partnerschaft ist das Pendeln eine Doppelbelastung mit hohem zerstörerischen Potenzial. Eine Studie der schwedischen Universität Umea kam 2014 zum Ergebnis, dass das Risiko einer Scheidung bei Ehepaaren, die pendeln um 40 Prozent höher liegt. Befragt wurden dafür über zwei Millionen Schweden, die Untersuchung gilt als repräsentativ. Allerdings zahlt sich auf der anderen Seite auch Hartnäckigkeit aus: Denn die Forscher fanden gleichzeitig heraus: Wer die ersten fünf Jahre trotz beruflichem Pendeln zusammen bleibt, der wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit nach auch weiterhin mit dem Partner aushalten. Um es aber gar nicht erst so weit kommen zu lassen, rät Psychologin Pauls daher vor allem, das beste aus der Situation zu machen: Die eigene Einstellung zum Pendeln entscheidet darüber, ob es einfach ein stressiger Teil des Alltags ist - oder ein Beziehungs- und Sozialleben-Killer.
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Mit dem Arbeitgeber früh über das Pendeln sprechen - Inzwischen gehen gerade in großen Unternehmen viele Chefs dazu über, Berufspendlern Gleitzeit-Modelle mit flexiblen Arbeitszeiten anzubieten, die den Zeitdruck ein wenig herausnehmen können. Auch Telearbeit, also das Arbeiten an bestimmten Tagen von Zuhause aus, bietet sich bei manchen Bürojobs an.
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Die Zeit unterwegs als Vorbereitung nutzen - Viele Pendler fühlen sich wohler, wenn sie nicht untätig im Zug herumsitzen und genervt auf die Uhr starren: Oft können einige Dinge für die Arbeit schon im Zug vorbereitet oder noch einmal durchgegangen werden. So kann vielleicht schon der Feierabend ein wenig früher eingeläutet werden. Umgekehrt gilt das natürlich auch: Wer am Steuer abends auf der Autobahn schonmal gedanklich nebenher beim Fahren den Einkaufszettel durchgeht, spart sich am Abend die Zeit für die Familie auf.
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Etwas Gutes für sich tun - Die meisten Pendler vermissen vor allem das, was für andere völlig selbstverständlich scheint: Mal wieder ein gutes Buch lesen, einen Film schauen oder mit der besten Freundin quatschen. Mobile Technologien wie Smartphone-Apps oder der E-Book-Reader können die Fahrt gerade für Zugpendler angenehmer gestalten, ohne gleich ein ganzes Bücherregal mitschleppen zu müssen.
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Sich selbst klare Grenzen setzen - Weil das ständige Unterwegssein es schwierig macht, abschalten zu können, hilft es oft, unterwegs klare Grenzen zwischen Job und Freizeit zu setzen. Heißt: Mit sich selbst vereinbaren, ab einem gewissen Zeitpunkt oder einer gewissen Ortsmarke, an der man vorbeifährt, wird nicht mehr an die Arbeit gedacht, sondern beginnt auch im Kopf der Feierabend.
So belastend die Situation auch sein kann, Arbeitsforscherin Hamann hat bei ihren Untersuchungen auch aufgedeckt, dass das berufliche Pendeln nicht nur negativ sein muss. Für Paare, bei denen beide arbeiten, wird es oft so überhaupt erst möglich, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Und so können beide Partner sogar ihren Traumberuf verwirklichen. Denn mit ihrer Arbeit selbst, ist eine überraschende Mehrheit der Pendler zufrieden - deutlich mehr als bei den nicht-mobilen Kollegen. Außerdem sind Pendler statistisch gute Verdiener und arbeiten aus der Sicht ihrer Chefs meist auch effizienter - weil sie ihren Arbeitstag genau durchplanen und bewusst darauf achten, sich auch im Gegenzug am Wochenende zu erholen.
Claudia*, die junge Pendlerin, die wir am Badischen Bahnhof in Basel getroffen haben, überlegt hingegen, sich jetzt doch bald eine kleine Wohnung in der Nähe ihres Arbeitsplatzes zu suchen. So würde sich das Pendeln dann von fünf Tagen auf zwei Tage verkürzen, wenn sie künftig am Wochenende zu ihrem Mann und ihrer Mutter zu fährt. Sie sagt: "Es ist schon ein wenig traurig, aber für die nächsten Jahre sehe ich keine andere Chance". Kurz darauf kommt mit zwei Stunden Verspätung endlich ihr ICE ans Gleis gefahren, sie stemmt ihren Rucksack über die Schulter und drängt sich zusammen mit den anderen Reisenden in die Bahn in Richtung Zuhause.